Astrid Tomczak-Plewka
Es ist ein unüblich grauer, nasser, nebliger Tag in San Diego. Michelle Frei, die seit Oktober 2021 als Postdoc an der University of California San Diego ist, fühlt sich an diesem Tag im April an den Schweizer November erinnert «ausser, dass es nicht so kalt ist.» Im Zoom-Call erzählt sie, wie sie als Kantischülerin mit Schwerpunkt Biologe und Chemie in einem heissen Sommer in Wettingen Insekten untersuchen durfte. Die Tierchen, meint sie lachend, seien gar nicht so spannend gewesen. «Aber wir durften im Fluss rumstapfen, während die anderen im Klassenzimmer büffeln mussten. Das war cool.»
Die Episode ist charakteristisch für die 31-Jährige. «Ich bin sehr pragmatisch und habe immer den Ansatz verfolgt: ich mache etwas so lange, wie es mir Spass macht.» Die Schülerin interessierte sich für Naturwissenschaften. «Mich hat es fasziniert, wie die Dinge auf molekularer Ebene funktionieren», sagt sie. «Ich wollte wissen: Was passiert im Körper, wenn jemand Krebs oder andere Krankheiten hat.» Das Chemiestudium war also eine naheliegende Wahl. Allerdings wollte Michelle Frei zunächst Medizin oder Pharmazie studieren: «Aber ich dachte, da würde ich zu viel auswendig lernen müssen.» Über die Chemie-Olympiade kam sie in Kontakt mit Chemiestudentinnen und -studenten, die sie davon überzeugten, dass Chemie das Beste sei. Sie sollten Recht behalten.
«Auf bestem Weg, ein Star in chemischer Biologie zu werden»
Nach dem Masterstudium an der ETH Zürich wusste die Aargauerin, dass sie weiter forschen wollte. Nach einem Abstecher bei der Firma Actelion startete sie ihr Doktorat bei Professor Kai Johnsson an der ETH Lausanne (EPFL). Seine Gruppe ist darauf spezialisiert, fluoreszierende Moleküle herzustellen, die in der Mikroskopie verwendet werden. «Damit können biologische Phänomene in Zellen beobachtet werden», erklärt Michelle Frei. Klassischerweise nimmt man dafür einen roten, blauen oder grünen Farbstoff. Dabei wird Licht auf die entsprechenden Moleküle geschossen – und diese emittieren ein anderes Licht zurück – und zwar mit einer gewissen Zeitverzögerung. Je nach Farbstoff ist diese Verzögerung, die so genannte Lebenszeit, unterschiedlich lange. «Das weiss man zwar schon lange, aber dieses Wissen wurde bis jetzt noch nicht wirklich praktisch angewendet», sagt Michelle Frei.
In ihrer Dissertation, die nun mit dem Prix Schläfli ausgezeichnet wurde, hat sie mit Farbstoffen gearbeitet, die an ein Protein namens HaloTag andocken. Sie stellte drei Varianten von diesem Protein her. Wenn sie nun alle drei Varianten mit dem gleichen Farbstoff verbindet, haben sie zwar alle die gleiche Farbe, aber die erwähnte Lebenszeit ist nicht gleich. «Ich kann also mit einem einzigen Farbstoff drei unterschiedliche Sachen untersuchen», erklärt die Chemikerin. «So kann ich ein Protein in den Zellkern schicken, eines an die Membrane und das dritte an die Mitochondrien.» Dieses Verfahren nennt sich Multiplexing. Für die Fluoreszenzmikroskopie, die unter anderem in der Biomedizin angewendet wird, ist das eine bahnbrechende Entwicklung. In den Worten von Michelle Freis Doktorvater Kai Johnsson: «Ich bin überzeugt, dass diese Arbeit die Nutzung des Fluoreszenz-Lebensdauer-Multiplexing durch die wissenschaftliche Gemeinschaft erheblich erleichtern wird.» Für ihn ist klar: «Michelle Frei ist auf dem besten Weg, ein Star in chemischer Biologie zu werden». Dieses Kompliment macht die junge Frau zunächst sprachlos. «Wow, so ein Kompliment aus seinem Mund, das ist wirklich eine grosse Ehre.»
Vernarrt in die Forschung
Gerne würde sie in die Schweiz zurückkehren und ihr eigenes Labor leiten. Doch das nächste Jahr will sie nutzen, um in einem der renommiertesten Labore weltweit noch mehr zu lernen. «Ich habe einen Narren an der Forschung gefressen», sagt sie strahlend. «Ich bin immer noch fasziniert davon, molekulare Prozesse zu verstehen.» Ihre zweite Faszination gilt übrigens Büchern, insbesondere nordischen Krimis. Sollte das kalifornische Wetter also auch künftig seinem sonnigen Ruf nicht gerecht werden, kann sich die Schweizerin getrost in den skandinavischen Winter versetzen – mit Blick auf den Nebel in der Bucht von San Diego.